Othering oder Intraagieren?

Ist die Natur ein amorpher Klecks [blob], der von menschlichen Diskursen und Interaktionen strukturiert ist?  So fragt Karen Barad und arbeitet sich als Atheistin an der gleichen Problematik .ab wie ich als Christ. Kommt bei unserem Nachdenken über die Welt zwangsläufig immer ein grober Anthropozentrismus heraus?

Ob Konstruktivismus, Aufklärung, Idealismus  oder Christentum? Alle kommen immer zu den gleichen Ergebnissen? Der Mensch im Mittelpunkt.

Aber dieses beziehungslose Denken lässt sich geschichtlich nachverfolgen und es fängt eben nicht bei der biblischen Schöpfungsgeschichte an. Das Alte Testament ist gar nicht in der Lage beziehungslos und abstrakt zu denken. Das beziehungslose Denken nimmt bei den Griechen seinen Anfang und findet seine prägende Ausgestaltung für uns bei Descartes.     

Erst der sogenannte Cartesianische Schnitt kappt alle Verbindungen nach Außen:

Ich denke also bin ich. Das ist die einzig sichere Wahrheit.

Später hat Newton aus dieser Beobachtungsposition heraus die physikalischen Grundgesetze der Mechanik entwickelt. Das Selbstverständnis der Wissenschaften prägt das bis heute: Der Mensch kann als reiner Beobachter Gesetzmäßigkeiten feststellen, die auch unabhängig von ihm ablaufen. Insofern sind die Dinge objektivierbar, ohne Bezug zum Menschen. Für den Wissenschaftler geht es dann nur um die Entdeckung von Sachverhalten. Der forschende Mensch sieht sich von Beginn an nicht in der Verantwortung, sondern freut sich als Entdecker, von jeder Beziehungsverantwortung frei zu sein.

 

Das ist uns gegenüber der Natur zur Grundhaltung geworden unter der wir bis heute leiden und die Natur mit uns. Dieses krasse beziehungslose Gegenüber von Natur und Kultur ist heute in fast allen Menschen- und Gesellschaftsbildern fest verankert und festigt ein unhinterfragtes Machtverhältnis, im dem der Mensch in der Mitte die Natur um ihn herum bedingungslos benutzt. Seine ethischen  Grenzen findet er nur an sich selbst: Er will nachhaltig die Lebensgrundlagen für sich erhalten. In diesem Satz muss noch nicht einmal das Wort Natur vorkommen, so selbstbezogen sehen wir auf die Welt.  .

 

Othering

 

Das Konzept des Othering fußt auf dieser Beziehungslosigkeit zur Natur: Es wird eine Unterscheidung gemacht zwischen den auserwählten Menschen, die Verstand  besitzen und der fremden Natur, die ohne Verstand ist. Der Verstandesmensch kann die Verstandeslose Natur beobachten. Gleichzeitig wird das Gegenüber damit abgewertet zur verstand-, willen-, seelen- und kulturlosen Objektwelt. Das Othering findet dann immer wieder Anwendung, besonders bezeichnend in dem Sprachbild von den Naturvölkern, die gerade aufgrund  ihrer Zuordnung zur Natur eben als verstand-, willen-, seelen-, und kulturlosen Wesen auch gut als menschliches Ding versklavt werden konnten oder wahlweise erst zu Menschen erzogen werden mussten.

Der Feminismus hat zu Recht aufgedeckt, dass es in der Geschichte den Frauen nicht anders ging, sie wurden auch Opfer des Othering: Auch sie wurden bezeichnenderweise als Naturwesen beschrieben, wenig Verstand, wenig Kultur, aber viel Familiengefühl und Sexualität, also fast dem Tierreich zuzuordnende Eigenschaften. Ich kenne Männer, die bis heute die Natürlichkeit der Frau als Höchstes schätzen gegenüber der entfremdeten Verstandeswelt. Typisches Othering.

In Deutschlands dunkelster Geschichte gab es dann den entsetzlichen Vergleich von Menschen mit Läusen und Ungeziefer. Der gewissenlose derzeitige Innenminister Italiens Salvini hat letztens die Flüchtlinge aus Afrika auf eine Masse Fleisch reduziert. Alles das auch Naturvergleiche, die das ursprüngliche Othering von Verstandes Mensch und Verstands loser Natur, das Kappen der Beziehung voraussetzen.    

 

Die Nachwirkungen dieses einen grundlegenden cartesianischen Othering - Ich denke also bin ich - wirkt bis in die tiefsten Bewusstseinsschichten nach und prägt unser gesellschaftliches Verständnis von Natur als menschlicher Umwelt bis in die Diskussionen um die Lösung der Umweltkrise hinein.    

 

Intraagieren

Karen Barad versucht von den Erkenntnissen der Quantenphysik her dieses Denken zu durchbrechen.    Der Däne Nils Bohr hatte entdeckt, dass die Elektronen beim Quantensprung von den verschiedenen Umlaufbahnen des Atoms sich je nach Versuchsaufbau unterschiedlich verhielten. Mal verhielten sich die Photonen als Welle mal als Teilchen, ganz danach wie der Versuchsaufbau gestaltet war. Sie sind nicht so oder so, sondern reagieren mal so, mal so. Sie haben quasi eine performative Natur. 

Karen Barad versucht in Nachfolge von Nils Bohr dieses physikalische Erscheinung philosophisch zu deuten und Anschluss an den Sozialkonstruktivismus von Judith Buttler zu finden, ohne dabei die reale Beziehung von Natur und Mensch aufgeben zu müssen.  

Der Quantensprung lässt sich nicht mit dem bisherigen wissenschaftlichen Weltbild versöhnen.  Darum fordert Barad eine andere Grundlage für die Erkenntnistheorie. Für die Wissenschaft fordert sie ein neues Bewusstsein, dass eben kein situationsloses Wissen mehr produziert und der beziehungslosen Ausbeutung freigibt.

 

Jeder wissenschaftlicher Versuch besteht aus untersuchter  Materie und Versuchsaufbau und Wissenschaftler  - bei der Entdeckung des Quantensprungs hatte der Zigarrenrauch eine bedeutende Rolle gespielt - und der Wissenschaftler kann sich nicht aus dieser Situation herausrechnen. Das bedeutet für Barad zugleich, dass es ein Beziehungsgeschehen ist zwischen Materie und Forscher, Natur und Kultur. Und sie erfindet dafür das schöne Wort intraagieren, um auszudrücken, dass wir uns immer schon innerhalb einer Beziehung zur Natur befinden, aus der wir uns niemals heraus abstrahieren können, auch keine wissenschaftliche Objektivierung des untersuchten Gegenstandes ist möglich, sondern wenn überhaupt eine Objektivierung möglich ist, dann nur die des jeweiligen, zeitlichen und örtlichen Zusammenhangs in dem Mensch und Natur aufeinander reagieren. Barad nennt die jeweiligen Begegnungen von Mensch und Natur Phänomene. 

Das Selbstverständnis der Naturwissenschaften ist Kultur und unterliegt genauso der sozialen Konstruktion wie alle andere Kulturbildung auch. Auch hier lassen sich in der Analyse des hegemonialen Diskurses Machtachsen aufweisen.  Natürlich vor allem das Selbstbild des neutralen Entdeckers von Naturwahrheiten als des beziehungslosen über der Natur stehenden Betrachters. Diese Beziehungslosigkeit ist die Voraussetzung des Othering, der gewaltsamen Aneignung der Natur.

 

Das Programmwort Intraagieren führt mich wieder zu Hanna Arendts Bild für die Politik, als das zu gestaltende Dazwischen, das den Bereich beschreibt innerhalb dessen wir alle sind und in dem wir intraagieren, den Zwischenraum, wenn es gut geht, politisch gestalten. Von Mitwelt können wir erst sprechen wenn wir auch hier den Zwischenraum entdecken, der beidseitig gestaltet wird, von Natur und vom Menschen. Von Mitwelt können wir erst reden, wenn wir unser Verhältnis zur Natur als eine beidseitige Beziehung denken können, wenn wir lernen uns als Intraagierende mit Natur zu verstehen.

 

Karen Barad ist Physikerin und will keineswegs die Wissenschaften aufgeben, aber sie will  fortan wiederholbare Phänomene beschreiben, von denen der/die Wissenschaftler*in selbst ein Teil ist, sich selbst so versteht. Er/sie darf sich von Anfang an niemals außen vor sehen, sondern soll sich als antwortend, reagierend auf die Natur/Materie verstehen und immer mit Reaktionen der Natur/Materie rechnen.

Ein Beziehungsgeschehen aus dem man sich nicht heraus abstrahieren kann, lässt kein Othering zu.  In einem Beziehungsgeschehen zwischen Mensch-Natur wird auch die Vorstellung unmöglich, dass die Welt sich um unser Bewusstsein zu unserer Umwelt ordnet. Wir bewegen uns immer in Relation. Wie gestalten wir dieses Zwischen von Mensch und Natur, wie intraagieren wir jeweils situativ mit der Natur?