Die Zeit der fortgeschrittensten Wissenschaften sind Zeiten des Nicht-Wissens. Die Komplexität der Lebenszusammenhänge in die wir eingreifen ist so groß, dass auch die Wissenschaft nicht in der Lage ist sicheres Wissen bereitzustellen, das Grundlage für belastbare Entscheidungen wäre. In immer mehr gesellschaftlichen Bereichen tut sich ein Abgrund auf zwischen der Reichweite zivilisatorischer Entscheidungen und dem Nicht-Wissen, auf das die Entscheidungen gegründet werden müssen. Die Wissenschaften stellen sich selbst als ein Bereich dar, in dem das Wissen höchst umstritten bleiben muss. Unser gesellschaftliches Handeln scheint ein wiederkehrendes Muster völliger Überforderung zu wiederholen: Im Umgang mit Sterbenden hat uns die Medizintechnik an Grenzen geführt, die keine rationale Entscheidung ermöglicht, in der Nanotechnologie, der Gentechnik, der Atomtechnologie, der industriellen Landwirtschaft, digitaler Datensicherheit und allemal beim Klimawandel stehen wir in Folge wissenchaftlich-technischen Fortschritts vor wissenschaftlich unbeantwortbaren Fragen, welche Folgen die Anwendung unseres Wissen haben werden, wie wir also verantwortlich handeln sollen. Wir müssen mit unserem Nicht-Wissen umgehen.
Viele Studien haben systematisch rekonstruiert, inwiefern technische Sachzwänge durch Eingrenzen und Ausschließen von Alternativen hergestellt werden und Unbestimmtheiten durch grobe Vereinfachungen überspielt werden. Es stellt sich mir daher die Frage, ob sich in der immer engeren Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft ein strukturelles Gefälle aufgebaut hat, das sich treffend mit Reduktionismus beschreiben ließe. Haben wir als von Wissenschaft und Wirtschaft dominierte Gesellschaft eine ausgeprägte reduktionistischen Weltsicht entwickelt?
Nach der Feministin und Physikerin Vandana Shiva, beginnt der Reduktionismus unserer Gesellschaft mit der gewaltsamen Unterscheidung von Wissen und Unwissenheit. Das System des Wissens zieht klare Grenzen und außerhalb dieser Grenzen gibt es definitionsgemäß nur Laien, also Unwissende. Es gibt auch nur eine Art des Wissens.
Zum zweiten basiert nach Shiva der Reduktionismus auf der Sichtweise, dass Natur eine träge und fragmentierte Masse ist.
Reduktionismus basiert auf der Annahme, dass die ganze Natur in Teile zerlegt, fragmentiert und atomisiert werden kann und sich aus der Erforschung dieser isolierten Teile doch belastbares Wissen generieren lässt. Vor allem aber werden alle natürlichen Prozesse, alle größere Zusammenhänge in der Natur nur mechanisch verstanden.
Dieser Reduktionismus ist für Shiva eine konkrete, passgenaue Antwort auf die Bedürfnisse einer bestimmten Art zu wirtschaften und Politik zu organisieren. Nur solche Entitäten zählen in der Wirtschaft, die Profit versprechen, alles andere wird ausgeschlossen. Reduktionismus reduziert darum komplexe Ökosysteme auf eine Komponente und ihre eine Funktion. Darum manipuliert der Reduktionismus das Ökosystem in einer Weise, dass diese eine Funktion maximiert und ausgebeutet wird. Alles andere Wissen interessiert nicht.
In dieser Weise steht die reduktionistische Wissenschaft an der Wurzel der wachsenden ökologischen Krise, weil sie eine Transformation der Natur beinhaltet, die alle organischen Prozesse, Interaktionen Rhythmen und regenerativen Fähigkeiten zerstört.
Mich selbst hat immer das Beispiel der industriellen Maiszüchtung fasziniert. Bei der Züchtung eines industriellen Hochleistungsmais ging die Fähigkeit des natürlichen Mais verloren seinen Hauptfressfeind unter den Insekten zu bekämpfen, in dem er durch Duftstoffe dessen Fressfeind, eine Wespe anlockt. Nachdem diese Fähigkeit heraus gezüchtet worden war, waren natürlich mehr Insektizide notwendig, die neben dem Saatgut des industriellen Hochleistungsmais verkauft werden mussten.
Die willkürlichen Grenzziehungen zwischen Wissen und Nichtwissen laufen parallel zu denen von wertvoll und wertlos. Die reduktionistische Metapher des Mechanischen kreiert diese Grenzziehung. Die Metapher des Mechanisierbaren kreiert was möglich ist zu kolonisieren und zu kontrollieren. Natur ist Rohmaterial, das erst durch technische Aneignung und Kontrolle zu etwas wertvollem gemacht wird. Diese handlungsleitende Idee hat sich seit John Locke gehalten: "Der Mensch entscheidet was von der Natur er unberührt lässt und was er mit seiner Arbeit mixt und damit wertvoll und zu seinem Eigentum macht."
Natur ist alles was frei verfügbar und so billig wie möglich zu haben ist, also ohne Wert. Wert bekommt die Natur erst nach der Ausbeutung, Bezwingung, Umwandlung und Aneignung, des zur "Ware Machen". Alles andere als die verkaufbare Ware wird als wertlos definiert und ausgeschlossen als Natur, natürlich auch Frauen und ihre Arbeit, weil sie als Natur gesehen werden.
Die Geburt wurde ebenfalls durch die Medizin mechanisiert. Heute ist die Geburt zu großen Teilen eine Sache des Kaiserschnitts. Der weibliche Körper, so Shiva, wird fragmentiert und gemanagt von Medizinprofis. Die Frauen würden zu Containern und ihre Passivität entspräche ihrer Unwissenheit was zu tun sei. Sie würden eingewiesen.
Die Fragmentierung ermögliche es über die Grenzen der Natur zu gehen, ihre Grenzen zu ignorieren.
Hybridization von Samen mache den lebendigen Kern der Natur zur Ware und öffne die Möglichkeit der Kapitalakkumulation. Samen, die sich selbst vermehrten stehen zur freien Verfügung, Samen aber der genmanipuliert oder technisch gezüchtet sei werde zur Ware und auch zum Herrschaftsinstrument.
Mir scheint V. Shiva recht zu haben, es handelt sich um ein reduktionistisches Gefälle: Eine freie und offene Quelle, wie der in seiner Fülle vorhandene natürliche Samen, wird zu einer Ware reduziert, die kontrolliert wird. Der Same, der die Kraft in sich trug, sich selbst zu erneuern und zu vermehren wurde zu einer technischen Inputgröße reduziert. Im Zuge dieser Kommodifizierung wurden Bauern und Landarbeiter zu unterentwickelten, unwissenden Randfiguren reduziert und verarmen. Der Samen wird von einer fertigen sich erneuernden Frucht zu einem Rohmaterial für menschliche Produktion und Kommodifizierung. Der Mensch schafft es einen Samen zu erfinden, der nicht sich selbst reproduziert sondern auf menschliche Hilfe angewiesen in künstlicher Umgebung zu entstehen und gleichzeitig gelingt es der Industrie den natürlichen sich selbst reproduzierenden Samen als primitive Rohmaterial zu denunzieren und den impotenten menschlichen Kunstsamen, der nicht in der Lage ist sich selbst zu reproduzieren als fortgeschritten zu beschreiben. So wird gleichzeitig die Biodiversität zerstört und Menschen in Abhängigkeit gebracht.
Vor allem wird ein großes Wissen, jahrzehntelange natürliche Züchtung der Farmer in den südlichen Ländern, ihr Know how der Landwirtschaft rassistisch als wertlos gebrandmarkt, weil nur Laborwissen in Wert zu setzen sei, nur das sei geistiges Eigentum während das lange Wissen der Samenzüchtung als kostenlose Grundlage für die Laborarbeit diente: Diese über Generationen gezüchteten Samen waren für alle frei verfügbar, erst das technische Labor macht den Samen zum geistigen Eigentum, das ökonomischen Wert besitzt. Das ist Herrschaft bei der Arbeit. Die Zerstörung der Regenerationsfähigkeit der Arbeit wird nicht als Zerstörung bezeichnet, stattdessen wird die nun erreichte Steigerung menschlicher Produktion und Konsum als Wirtschaftswachstum gefeiert.
Kann man nicht sagen, dass die Zeiten des Erfolges des reduktionistischen Prozesses hinter uns liegen und wir nun die Konsequenzen zu tragen haben. Die Konsequenzen unseres enormes Nichtwissens, was das Ganze, die Vernetzung und die Zusammenhänge angehen werden immer deutlicher. Wir haben für diesen groben Reduktionismus zu zahlen. Dieser Reduktionismus kennt keine Integrität der Natur, sondern nur das Zerlegen und isolieren und reduzieren. Am Ende muss ausgerechnet die aus der Aufklärung erwachsene Wissenschaft - englisch heißt Aufklärung Enlightenment - blind handeln, im Dunklen in die Zukunft tappen. Sie versteht die größeren Zusammenhänge in denen wir leben und handeln müssen nicht mehr. Adorno, Horkheimer und Marcus haben das treffend als die Dialektik der Aufklärung beschrieben.