Der Umweltbegriff bekommt durch die Systemtheorie Niklas Luhmanns und seiner Nachfolger eine besondere Profilierung, der im krassen Gegensatz zu Albert Schweitzers Satz steht: "Ich bin eben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." Der Umweltbegriff wie ihn die Systemtheoretiker verwenden zeigt deutlich, warum das Bewusstsein für die gravierende Naturzerstörung und die eigene Bereitschaft daran etwas zu ändern so weit auseinanderfallen, kurz warum die Differenz zwischen Umweltbewusstsein und Umwelthandeln so groß ist.
Autopoietische Systemblindheit
„Autopoiese ist ein Begriff aus dem radikalen Konstruktivismus und bezeichnet die stärkste Form der Selbstreferenz, die
beschreibt, dass das System nicht nur sein Verhalten, sondern überhaupt seine Existenz durch sich selbst erzeugt. Autopoiesis oder Autopoiese (altgriech. αυτος „selbst“ und ποιεω „schaffen,
bauen“) ist der Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung von Lebewesen oder lebenden Systemen. Der Begriff wurde von Humberto Maturana geprägt und später von Niklas Luhmann … auf die
Theorie sozialer Systeme übertragen. Zur Autopoiese gehören: Selbstreferentialität: die eigenen Zustände werden intern gesteuert.“ [i] Es wird von der operativen Geschlossenheit der Systeme gegenüber der Umwelt gesprochen: Das System wählt seine Außenkontakte nach den eigenen
inneren Bedürfnisse zum Systemerhalt selbst aus.
Der Anschluss an die Umwelt des Systems erfolgt ausschließlich nach inneren Systemerhaltungsbedürfnissen. Das heißt die Umwelt kommt ausschließlich als eine fremde Ressource für die eigenen
Prozessabläufe in den Blick und alle anderen Informationen werden als systemirrelevant herausgefiltert:
Der Unternehmer sieht ausschließlich die Effizienz von Massentierhaltung, der Tourist sieht ausschließlich den Erholungseffekt wunderbarer Landschaften, der Berufspendler ausschließlich die Notwendigkeit eines kurzen Arbeitsweges und des fließenden Verkehrs. Alle anderen Fragen betreffen eine systemfremde Umwelt, und werden als systemirrelevant herausgefiltert. Es herrscht vollkommene Blindheit für die Umweltsituation. Handlungen erfolgen erst, wenn die fremde Umwelt das eigenen Prozessieren, die inneren eigenen Abläufe stört und behindert. Aber gehandelt wird auch dann nur selbstbezogen, d.h. auf den Erhalt des eigenen Systems hin: Also wenn die Tiere in der Enge der Massentierhaltung erkranken und sich gegenseitig anstecken, gefährdet es den wirtschaftlichen Ertrag, systemfunktional wird ihnen Antibiotika gegeben, wenn der Erholungswert einer Landschaft zu niedrig ist, werden systemfunktional zusätzliche Wellnessangebote gebaut, die touristische Infrastruktur nach den Erholungsbedürfnissen der Touristen erweitert, wenn die Staus zunehmen, wird systemfunktional die Autobahn erweitert, alle anderen Fragen werden wieder als systemirrelevante, weil die fremde Umwelt betreffend, ausgesiebt. Das ist - und das war sogar für Luhmann - bei Naturprobleme die Achillesverse der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Da alle Systeme evolutionär zum Aufbau einer größeren Eigenkomplexität neigen, produzieren sie auch mehr Informationen und zwingen alle anderen zur Komplexitätsreduktion, das heißt Umweltbelange werden als systemfremd noch strenger herausgefiltert.
Autismus der Systeme
So wird Umwelt als das systemfremde Andere tatsächlich fortlaufend reproduziert. Diese Systemblindheit für die Umwelt ist in der industriellen Landwirtschaft besonders offensichtlich: Für die Fleisch- und Eierproduktion ist der massivem Antibiotikaeinsatz systemfunktional, weil die Produktion so effizienter und kostengünstiger betrieben werden kann, mehr Tiere auf engerem Raum gehalten werden können. Die Verseuchung des Trinkwassers, die Gefährdung der Nutzbarkeit dieses kostbarsten aller Medikamente für den Menschen sind genauso systemirrelevant für die Landwirtschaft, wie die männliche Küken bei der Eierproduktion systemisch dysfunktional sind und geschreddert werden.
Auf genau dieser Eigenlogik besteht die Wirtschaft in aller Form und ist bereit sie mit gewaltiger Lobbyarbeit zu verteidigen. Buchstäblich in der Mitte unserer Gesellschaft stehend, nimmt die Wirtschaft Einfluss auf alle anderen Bereiche des Lebens und beharrt demgegenüber streng auf ihrer eigenen Systemlogik und wehrt sich sowohl gegen jede Form der Einflussnahme von außen, als auch gegen jede Änderung wirtschaftlicher Eigenlogik .
Wir sind Teil der ausdifferenzierten funktionalen Gesellschaft
Mit recht darf gefragt werden, ob unser Denken nicht selbst im Wesentlichen dieser Systemlogik folgt. Sagen wir in dieser Logik nicht immer dann wenn es konkret werden soll: Ich will jetzt nicht auch noch Energie sparen, gegen Naturzerstörung demonstrieren, Bus statt Auto fahren, Papier sparen. Die Mitwelt wird als systemfremde Umwelt aussortiert, ist als systemirrelevant nicht von handlungsleitendem Interesse. Die Mitweltbelange liegen jenseits unserer Berufs-, Familien-, Freundschafts-, Freizeitsysteme und kommen eben zu deren Bedürfnissen noch dazu … . In allen unseren Systemen ist dieses mitweltgerechte Tun systemirrelevant und darum ein Lästiges, für das wir keinen rechten Ort und keine rechte Zeit finden.
Biblisch konstruierte Gegenwelt
Biblisch erzählt die erste Schöpfungsgeschichte demgegenüber eine Geschichte, die ein anderes Weltbild konstruiert. Der Mensch erschafft und erhält sich nicht selbst und er findet sich in vielfältiger Bezogenheit inmitten der Schöpfung wieder. Trotz des in der Auslegungsgeschichte vielfach missbrauchten und zu Unrecht ins Zentrum gestellten Verses Gen 1,28b: „… machet Euch die Erde untertan“, gilt das „Sehr gut“, das Gott ausspricht ausdrücklich nicht dem Menschen, sondern der ganzen Schöpfung als Gesamtwerk Gottes, der Segen Gottes wird nicht nur dem Menschen, sondern gleichermaßen den Meerestieren zugesprochen, die gute Vielfalt der Arten an jedem Schöpfungstag betont.
Exegetischer Exkurs
Vor allem aber darf der Herrschaftsauftrag des Menschen, der mit dem Ebenbild Gottes ausgesprochen wird, nicht zu eng gefasst werden. Ebenbild Gottes zu sein ist nicht einfach eine Eigenschaft des Menschen, sondern vor allem ein umfassender Auftrag. Im Alten Orient war nur der König Ebenbild Gottes und sein Auftrag war es durch seine Herrschaft, Gott in der Welt zu bezeugen. Dieser Auftrag wird nun aus seinem alten Zusammenhang genommen und in diesen neuen Schöpfungszusammenhang gestellt: Der Herrschaftsauftrag der Ebenbildlichkeit Gottes wird auf alle Menschen demokratisiert und ist in der Schöpfungserzählung jetzt legitim nicht nur auf den folgenden Vers zu beziehen, sondern auf den Gesamtzusammenhang, der mit dem „Sehr Gut“ Gottes über das Ganze der Welt endet.
Die Sabbatruhe ist eindeutig Teil seines Herrschaftsauftrages, kann der Mensch doch wie ein Herrscher ruhen und den Blick auf das Ganze der Schöpfung richten. Im späteren Sabbatgebot wird er aufgerufen, dafür Sorge zu tragen, das alle Geschöpfe in seinem Herrschaftsbereich Anteil haben an der Sabbatruhe. Mit dem Sabbat erfüllt der Mensch seinen Herrschaftsauftrag gerade indem er genau wie Gott ruht. Jenseits seines Arbeitens gibt er mit dem Halten des Sabbats Zeugnis: Die ganze Schöpfung, das Ganze der Schöpfung ist sehr gut von Gott geschaffen.
Unser christlicher Auftrag
Der Mensch ist als Ebenbild Gottes aufgerufen, Zeugnis für den Wert der Schöpfung als Ganze zu geben, der Teil er ausdrücklich ist und bleibt. Wir sollen Zeugnis abgeben für eben dieses Sehr gut, das über die so betonte Vielfalt der Arten von Gott ausgesprochen wird.
Wir sollen also Zeugnis ablegen für das was Albert Schweitzer so wunderbar ausgedrückt hat: „Ich bin Leben das Leben will, inmitten von Leben das leben will.“ Mit diesem Auftrag können wir uns niemals auf die selbstbezogene Geschlossenheit von Systemen reduzieren lassen und systemfremde Umwelt reproduzieren, sondern wir haben unsere Mitwelt zu bezeugen und zwar in Wort und Tat. Auch im Hambacher Forst, wo die RWE systemfunktional einen wunderbaren Wald zerstört, um systemfunktional Kohle zu verstromen für einen systemfunktionalen, verschwenderischen Konsum. Fallen wir endlich dem zerstörerisch sich drehenden Rad der in sich geschlossenen, sich selbst erschaffenden Systeme in die Speichen.
[i] Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik (Stangl, 2018).
Verwendete Literatur
Stangl, W. (2018). Stichwort: 'Autopoiese'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: http://lexikon.stangl.eu/2312/autopoiese/ (2018-05-30)