Stress für unsere Identität
Je weiter die Ökonomisierung aller Lebensbereiche fortschreitet, desto größer wird der Bereich in dem ich mich im Modus des Auswählens bewege: Was für ein Produkt soll ich wählen? Das ist Stress für unser Identität:
Zum einen durch den ständigen Blick nach außen, ich reagiere auf Angebote von Außen, agiere aber nicht aus meinen Überzeugungen heraus.
Zum anderen vermehrt und verändert sich die Objektwelt in unvorstellbaren Maße und macht es fast unmöglich sich auch nur noch in dieser Dingwelt identitätsbildend festzulegen. Selbst unser Körper ist wählbares Objekt käuflicher Selbstoptimierung in Fitnesscentern, ja sogar der chirurgischer Optimierung in Schönheitsoperationen: Welche Nase will ich?
Flexibilität als Hauptanforderung
Wir reagieren nur noch auf ein Überangebot von Außen, sogar weit über den kommerziellen Rahmen hinaus: Der Liberalismus hat uns von der Herrschaft vieler autoritärer Institutionen befreit, aber nicht, um uns in eine freie Wahl einer zeitstabilen Identität zu entlassen, sondern, um uns flexibel einsetzbar zu machen, unsere Funktionalität zu erhöhen. Prinzipien, Werte, ja jede durchgehaltene Individualität behindern die Anpassung an die sich laufend verändernden Bedürfnisse von Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft, Freundschaft, Familie.
So sind nicht nur die Überfülle der Waren wählbar geworden, sondern auch die Lebensstile, Berufe, Sexualität, Religionen. Alles wird warenförmig und beliebig. Es hat nichts mehr oder aber immer weniger damit zu tun, wer ich bin. Ich wechsle bei Bedarf diese Bindungen.
Auf diese Weise ziehen wir uns auf ein punktförmiges Selbst (Charles Taylor) zurück. ‚Je mehr es in unserer Wahlfreiheit liegt, ob wir das ein oder das andere wählen, umso mehr verlieren wir die Möglichkeit, unsere Wahl und damit unsere Identität zu begründen und sie als wertvoll zu erfahren.‘ (Hartmut Rosa).
Kein Spiegel unserer Selbst
Gleichzeitig gibt es auch keine Foren, keine Öffentlichkeit im Sinne Hannah Arendts mehr, in der ich eine eigene Identität durchhalten könnte und entsprechend Antwort und damit Bestätigung meines Selstbildes bekommen könnte. Die Wirklichkeit zersplittert sich in Funktionssphären: Beruf, (Suche nach fachlicher Anerkennung), Freizeit (Suche nach Anerkennung für meine Attraktivität), Politik (Wahrung meiner Interessen), Kultur (Suche nach intellektueller Anerkennung) und Familie (Suche nach Geborgenheit und Regeneration). Die Lebenszusammenhänge haben sich so weit funktional ausdifferenziert, dass wir immer nur Teile unserer Selbst leben können und uns immer wieder wieder anders, angepasst inszenieren müssen. Hartmut Rosa spricht von einer Situativen Identität.
Das punktförmige Selbst
Wir erleben kaum noch, dass wir irgendetwas an uns selbst in allen Lebensbereichen durchhalten, auf das wir stabil Antwort bekommen, und im Spiegel der Anderen, wiedererkennen, wer wir selbst sind. Das Selbst schrumpft auf einen Punkt zusammen, um immer anschlussfähig zu bleiben, bei beruflichen Veränderungen, neuer Partnerwahl, Wechsel der Religiösität, der politischen Gesinnung oder einfach technischer Veränderungen.